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Dieses Thema hat 1 Antworten
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 Ausdauertraining / Ausdauersport
Runners High Offline

Sportlicher Leiter

Beiträge: 202

20.01.2007 23:54
Erlebnis Marathon (Essen 2001) Zitat · Antworten
8:30 Uhr
Ankunft in Essen. Zahlreiche halbwache Läufer wuseln hier und da rum; es herrscht noch allgemeine Gelassenheit. Die Sonne steht noch sehr tief und es ist noch recht kalt.

„Was soll ich nachher bloß anziehen, Langarm, Kurzarm oder doch Mit-ohne-Ärmel?“

Egal, erst mal die Startunterlagen holen. Überall wo man hinschaut nur Grün und mittendrin ein großer See, mit Segelbooten und so. Eine traumhaftschöne Marathonstrecke erwartet alle Läufer. Im Wettkampfbüro am Regattahaus stehen lange Schlangen vor den Bedürfnisanstalten.

„Mmhh, eigentlich müsste ich ja auch noch mal ´müssen´, aber das dauert ja ewig bis man da einen Platz bekommt – und der Gestank, der sich nach schätzungsweise 50kg Kackhaufen aus den ´Örtchen´ breit macht, lädt auch nicht gerade ein.“

9:00 Uhr
Die Helfer arbeiten noch an der Startanlage und als Beschallung tönt mindestens 20min lang laut klassische (!) Musik aus den Lautsprechern.

„Das ist doch wohl ein Witz, oder? Nix gegen diese Musik, aber vor einem Marathonlauf? Soll das etwa beruhigend wirken? Mir kommen da eher die Tränen.“

9:30 Uhr
Im Startbereich wird es enger. Die bisherige Gelassenheit weicht allgemeiner Hektik. Das umliegende Geäst wird fleißig aufgesucht, und die Anzahl der unfreiwillig nass werdenden Büsche und Gräser steigt mit zunehmender Nervosität der Läufer überproportional an.

„Hab ich jetzt alles Wichtige gemacht? Startnummer ist dran, mein Futter (Gel) hab ich, alle potenziellen Scheuerstellen sind mit Vaseline eingeschmiert, empfindliche Stellen an den Füßen sind getapet. O.k. das war es; jetzt noch etwas warmlaufen und mal schauen was die Beine so sagen.“

Die Beine sind nicht überragend topp, aber schlecht sind sie auch nicht – also nicht beunruhigen lassen. Ein Tape-Pflaster am kleinen Zeh hat sich gelöst und drückt – also weg damit.

„Kagge, wo ich dort ja sehr empfindlich bin – das kann ja was werden.“

9:50 Uhr
Noch ein letztes mal ´Auswringen´; inzwischen läuft auch (endlich) richtige Aufputsch-Musik Marke Grace Jones.

„Wie konnte ich eigentlich so dämlich sein, mich – durch einen von vielen geistigen Ausfällen – so kurzfristig, nicht eingeplant und auch nicht ganz optimal vorbereitet, für einen Marathon zu entscheiden?“

9:59:50 Uhr
10,9,8,7,6,5,4,3,2,1,Päng ... die Läufermasse setzt sich in Bewegung. Einige hundert Zuschauer applaudieren; ein erstes Gänsehautgefühl tritt auf.

„O.K., jetzt schnell das richtige Tempo finden und nicht zu schnell angehen – Marschtabelle: bis 21km im 4:30ger Schnitt und dann mal schauen und evt. ein paar Kohlen auflegen. Aber wie schnell bin ich denn jetzt? Meine HF liegt dabei normalerweise bei ca. 175-180, mein HF-Messer zeigt aber deutlich über 180 an. „Das ist aber nur die Aufregung, also vergiss den Pulsmesser.“

Nach 3km habe ich dann mein richtiges Tempo gefunden und die HF-Werte sind auch normal. Ich hänge mich an eine kleine Gruppe Läufer an. Einige davon laufen etwas unruhig und haben wohl noch nicht ihr richtiges Tempo gefunden. Zwei davon laufen aber konstant einen 4:30ger Schnitt – optimal für mich.
Bei Km 5, die erste Verpflegungsstation. Ein Haufen Kinder und Erwachsene strecken einem hilfreich die Hände mit Getränken entgegen, mit den nie endenden Worten:
„Wasser, Wasser ... Iso, Iso, ... Wasser, Iso ...“

„Die Armen, die werden die nächsten Wochen wohl nur noch von diesen Worten träumen.“

Auf den nächsten Kilometern gebe ich meinen beiden Tempomachern die Spitznamen ´der Gasmann und sein Coach´. Der Eine rülpste des öfteren ziemlich laut und liess auch schon mal einige Furzlaute raus, und der Andere war wohl sein persönlicher Tempomacher.
Meine Beine sind leider nicht ganz frisch und mein Problem ´Waden` macht sich das erste Mal durch leichtes Ziehen der Selbigen bemerkbar. Außerdem drückt die Naht der Socke auf den (nicht mehr getapeten) kleinen Zeh.

„Mist, ich wusste es.“

Nach Km 10 lasse ich den `Gasmann und seinen Coach´ ziehen, da sie jetzt ständig einen 4:25ger Schnitt laufen – bloß nichts riskieren. Ich finde mich bald aber in einer ´Die Frau und ihr Coach´ Gruppe wieder. Nach 15km sind meine Waden schon deutlich ´fest´, mein besagter Zeh zeigt die erste schmerzhafte Scheuerstelle und ich muss ´pinkeln´ – toll.

„Was mache ich jetzt? Stehen bleiben, pinkeln und meine Socke zurecht ziehen? Das kostet viel Zeit, und bei einem 4:30ger Schnitt komme ich genau (knapp) unter 3:10h (mein Ziel). Die Pause kann mich locker 2min kosten, und ob ich die wieder aufholen kann? Ich wollte das Ding eigentlich nicht richtig hart laufen (blöder Ergeiz). Ach was, die Blase drückt nicht so stark und der Zeh-Schmerz ist erträglich und lässt vielleicht wieder nach (wie naiv) – ALSO DURCH. Aber was ist mit den Waden? Die tun ja jetzt schon weh. Da kannste sowieso nix dran machen, keine Panik.“

Ich denke an meine schönen neuen schneeweißen Laufschuhe, bei denen schon ein kleiner Blutfleck zu sehen ist.

„Hoffentlich wird die ´Blutlache´ nicht zu groß und versaut meine ´Renn-Schlappen´ völlig.“

Bedingt durch einen Wendepunkt, kommt uns die Spitze des Feldes entgegen. Der Erste hat schon einen deutlichen Vorsprung. Die erste Frau lässt auch nicht lange auf sich warten (sie startet in der W40-Klasse, wie sich später herausstellt) und hat auch einen großen Vorsprung auf ihre Konkurrenz – irre. Ich hole einen Läufer ein – er trägt ´Gammelschuhe´, Mickey Mouse Socken (die bis zur Hälfte der Waden reichen), eine Badeshort und ein Baumwoll-Polohemd. Ästhetisch unter aller Sau, aber laufen kann er.

„Der Typ hat ja eine leicht Plauze – wenn der vor mir ins Ziel kommt, dann werfe ich meine Laufschuhe auf den Müll und gehe in Rente. Aha, er muss abreißen lassen und fällt zurück. Wohl etwas übernommen, was? He, he)“ (

Auf den meisten Abschnitten gibt es nur wenig Zuschauer, nur ein paar Radfahrer und Spaziergänger, die feuern einen aber auch brav an, wobei manche Blicke zwischen Bewunderung und Mitleid wechseln. Doch an den Verpflegungsstellen ist oft die (kleine) Hölle los. Rasseln, Pfeifen, Samba- und ähnliche Gruppen und viele klatschende Hände.
Km 20, es ist unabwendbar, ich muss pinkeln und der nächst beste Baum muss dran glauben.

„Mist. Blöde Blase, wie lang brauchst du denn bist du leer bist? 40 Sekunden sind definitiv zu lang.“

Einmal kurz ausschütteln, und weiter geht’s. Ich ´ziehe´ mir mein erstes Gel-Futter rein, trinke bei der nächsten Verpflegung noch mal viel, um das Zeug richtig runter zu spülen, und dann geht die Aufholjagd los. Obwohl meine Beine schon müde sind und mein Wadenproblem etwas stärker geworden ist, läuft es jetzt richtig rund. Ich bin nur ca. 5 sek/km schneller als zuvor, aber ab jetzt hole ich langsam aber sicher immer mehr Leute ein (ca. 70 bis zum Ziel), was natürlich motiviert. Die ersten Läufer zeigen jetzt schon deutliche Schwächen.

„Ihr armen ´Schweine´, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Ihr aussteigt. Wie mag es mir heute wohl bei Km 30-35 gehen?“

Nach mehreren Kilometern sehe ich in der Ferne die ´Frau und ihr Coach´ Gruppe wieder.

„Klasse, wenn die konstant weitergelaufen sind und ich sie einhole, dann ist mein Pinkelpausen-Zeitverlust gegessen.“

Bei Km 27 habe ich sie dann wieder im ´Sack´ und lasse sie sogar stehen. Die immer wiederkehrenden (wenn auch nur leichten und kurzen) Steigungen lassen mich aber jetzt schon spüren, dass ich schon viele Kilometer in den Beine habe. Ab jetzt nimmt der Spaßfaktor langsam aber sicher mit jedem Kilometer etwas ab. Ich überhole eine Frau, die mit dem Rad fährt.

„Wie kann man nur so langsam fahren, ohne umzukippen?“
„Kann ich mich hinten drauf setzen, nur für ein paar Kilometer?“


Ein weiteres Problem taucht auf. Ein gelegentlicher leichter Magen-Darm-Schmerz tritt auf und ich werde auch etwas zum ´Gasmann´.

„Oh Shit, was mache ich jetzt? bei Km 30-32 muss ich eigentlich noch mal Gel-Power nachschieben. Wenn mein Magen aber rebelliert und ich Krämpfe bekomme war es das. Wenn ich aber nichts esse und so durchlaufe, könnte mir ein ´Hungerast´ drohen.“

Bei Km 32 fühle ich mich kräftemäßig (den Umständen entsprechend) noch gut und riskiere es, nichts zu essen. So langsam sehne ich mich nach dem Ziel, überhole aber weiterhin Läufer – und sogar der ´Gasmann und sein Coach´ sehen mich noch mal kurz (von hinten).
Km 36.

„Noch läppische 6km – kein Problem, und ich liege noch genau in der Zeit.“

Dann kommt noch mal eine Steigung, die den Namen eigentlich gar nicht verdient – aber ...

Da steht er: Der Todfeind aller Ausdauersportler. Er stellt sich mir unausweichlich in den Weg: DER MANN MIT DEM HAMMER. Er zieht mir eins über, mit einem dicken ´Hungerast´ und rammt mir lange Fleischermesser in die Waden. Schlagartig schwinden meine Kräfte und ich werde langsamer. Km 37 = 4:37min, Km 38 = 4:45min, Km 39 = 4:55min.

„Oh nein, bitte kein Totaleinbruch. Reiß Dich zusammen, da musst Du jetzt durch.“

Ich werde zwar jetzt nicht mehr langsamer, aber die letzten Kilometer werden endlos lang – nur Sterben kann schlimmer sein. `Böse´ Gedanken machen sich breit. Gedanken, welche mir deutlich die angeborene, völlig irrationale Verhaltens- und Handlungsweise der Spezies Homo Sapiens vor Augen halten. Jegliche Art von Argumentation, welche mir jetzt den Sinn des Laufen erklären wollte, würde ich mit einem ´Leck mich Du ...´ abweisen. Anderen geht es aber noch viel schlechter (rede ich mir zumindest ein), sie müssen immer wieder Gehpausen machen und haben teilweise fette Wadenkrämpfe.

„Jetzt auch mal etwas gehen, nur 100m? Nein, Du kommst auch laufend durch, das geht noch – und dieser Rhythmuswechsel würde Dich jetzt völlig aus den Schuhen hauen. Reiß Dich zusammen.“


Ich denke an ein (in Radsportlerkreisen zum Kult gewordenes) Zitat, welches Udo Bölts (ein damaliger Fahrer bei Team Telekom) zu Jan Ullrich sagte, als dieser einen kurzfristigen Einbruch hatte und die Tour de France (1997) zu verlieren drohte:

„Quäl Dich – Du Sau.“

Nach ewigen 4km endlich die Km 42 Marke. Nur noch 195m und das erlösende Zielband ist da. Einige Verrückte, die völlig platt sind, meinen jetzt noch einen Endspurt machen zu müssen, nur um noch 2-3 Plätze gutzumachen oder ein paar Sekunden zu gewinnen.

„So macht man sich die Beine richtig kaputt“.

Eigentlich vergisst man im Ziel euphorischer Weise, bei entsprechender Jubel-Menge, die Strapaze – aber diesmal iss damit nix. Ich bin zwar zufrieden, aber am Ende nur froh, dass es vorbei ist.
Im Zielbereich überall humpelnde Läufer. Ich komme mir vor, als wäre ich in einem Auffanglager für Gehbehinderte. Die Beine sind ´Schrott´, und eine kleine popelige Stufe, welche wir ´besteigen´ müssen, um den Zielbereich zu verlassen, würde zum unüberwindbaren Hindernis, wenn da nicht die helfenden Hände der (grinsenden) Feuerwehrleute wären.

„Was für ein jämmerliches und Mitleid erregendes Bild müssen wir doch abgeben.“
„Oh Mann, der folgende Muskelkater wird die Hölle.“


Nachdem ich mindestens 10l Gatorate getrunken und 3kg Bananen in mich hineingestopft habe, setze ich mich mit zwei anderen Finishern auf eine Bank. Eine Frau – muss wohl internationale Presse gewesen sein – sucht nach Foto-Motiven und fragt uns, ob sie ein Foto von uns machen darf – wir würden so professionell aussehen und machen noch so einen lockeren Eindruck. Unser Kommentar:

„Das sieht nur so aus. Das ist die Freude, weil es vorbei ist.“

Als Belohnung gibt es jetzt noch für jeden eine schöööööne Massage, von vielen Freiwilligen, welche heute gerade nichts Besseres zu tun haben, als hunderte von ´Masochisten´ durchzukneten.

Der Zielbereich füllt sich weiter, und nach kurzer Erholung wird rundum ausgiebig über das Laufen diskutiert und philosophiert, und jeder der Angehörigen muss, ob er will oder nicht, sich ´seine´ Geschichte anhören.
Als krönender Abschluss stellt sich mir auf dem Weg zum Auto noch eine Fußgängerbrücke in den Weg; die Besteigung eines Mount Everest ist ein Dreck dagegen. Für die Rückfahrt habe ich glücklicherweise einen Chauffeur dabei, und für die Hälfte der Fahrt verfalle ich in einen komaähnlichen Tiefschlaf.
Die nächsten Tage werde ich wohl im Rollstuhl sitzen oder mir zumindest eine zweitägige Bettruhe gönnen, ohne mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Dann zählt nur noch die (sprachgesteuerte) Fernbedienung des Fernsehers und der Pizza-Service . Ich überlege auch, zwei Zivildienstleistende (Pflegedienst) anzuheuern. Und habe mir geschworen, nie wieder einen Marathon auf Zeit zu laufen.
Aber heute, am nächsten Tag, sehe ich die Sache schon viel lockerer, und es geht mir gut, wenn man davon absieht, dass ich die Treppen rückwärts runter gehen muss.
Der Marathon ist schon eine faszinierende Strecke. Jeder kann es schaffen. Aber der Marathon ist auch unberechenbar, was ihn wiederum so faszinierend macht. Und kaum jemand wird ihn nur einmal laufen. Und, wenn der Hungerast nicht gewesen wäre, wäre ja alles auch viel leichter gewesen. Und eingeplant war er ja auch nicht. Und die Vorbereitung war dementsprechend auch nicht ganz perfekt. Und so schlimm war es ja gar nicht. Und überhaupt und sowieso ...

Macht Laufen eigentlich bescheuert, oder ist man bescheuert, weil man läuft?












Auf der Alm darf man sich lieben, denn im Herbst wird abgetrieben

Die Illusion der Realität ist nichts anderes als die Unterversorgung des Körpers mit Endorphinen

Ich wohne da, wo was übrig bleibt, wenn man alles abzieht, wo ich nicht wohne

crazy lady Offline

Blutiger Anfänger


Beiträge: 7

29.01.2007 14:55
#2 RE: Erlebnis Marathon (Essen 2001) Zitat · Antworten
*edit* by Runners High

Beitrag ist im falschen Thread gelandet. Das müssen wir noch üben, cl.
PS. Ich kenne sie persönlich und darf deshalb so gemein sein.

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